Von der weit verbreiteten Sprache zum aussterbenden Dialekt – die Geschichte des Rätoromanisch

Oder: Wie Mussolini Rätoromanisch vor 80 Jahren zur 4. Schweizer Landessprache machte.

Am 20. Februar 1938 – vor 80 Jahren – stimmte das Schweizer Stimmvolk mit einer überwältigenden Mehrheit von 91,6% dafür, Rätoromanisch – auch Bündnerromanisch oder Romanisch genannt – zur vierten Landessprache zu erheben. Im selbst dreisprachigen Kanton Graubünden wurde die Sprache bereits in den Verfassungen von 1880 und 1892 als offizielle Sprache des Kantons anerkannt. Die Geschichte des Rätoromanisch reicht aber noch viel weiter zurück.

Ein Beitrag der SRF-Sendung „Antenne“ vom 20.2.1963:

Die Eroberung der alpinen Gebiete, später Teil der römischen Provinz Raetia, durch Rom 15 vor Christus gilt als Anfangspunkt der Geschichte des Rätoromanischen. Die Bewohner des Gebiets, Kelten und Räter, übernahmen das Latein von den Römern. Von in den Tälern zuvor gesprochenen Sprachen zeugen im Rätoromanischen nur noch wenige Wörter. Es sind vor allem Begriffe der alpinen Lebenswelt sowie Dorfnamen, die erhalten blieben.

Unter römischer Herrschaft und auch nach dem Untergang des Reiches genoss das Gebiet Rätien weitgehend politische Autonomie. Das war auch der Entwicklung der einheimischen Sprache förderlich. Das rätoromanische Sprachgebiet reichte bis zum Glarnerland und das Rheintal hinauf bis zum Bodensee. Auch Teile Bayerns und Tirols sowie dem Vinschgau zählten dazu.

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Herrschaftliche Wechsel drängen das Rätoromanische zurück

Karl der Grosse beendete die Selbstständigkeit des Gebiets um 800. Fortan herrschte ein deutschsprachiger Graf über das Gebiet und brachte Gefolgsleute mit sich, die ebenfalls Deutsch sprachen. Auch der Wechsel des Bistums Chur von der Kirchenprovinz Mailand zu Mainz Mitte des 9. Jahrhunderts verstärkte die Abkehr vom romanischen Sprachraum. Fortan sass meist ein Deutschsprachiger auf dem Churer Bischofsstuhl. Die Oberschicht im mittelalterlichen Rätien war weitgehend germanisiert und so konnte sich in Chur – obwohl die Umgangssprache bis zum Stadtbrand von 1464 Rätoromanisch war – kein kulturelles Zentrum rätoromanischer Prägung bilden. Im 15. Jahrhundert wurde dann auch auf schriftlicher Ebene das Lateinische vom Deutschen abgelöst.

Im 16. und 17. Jahrhundert sind Anfänge einer rätoromanischen Schrifttradition sichtbar. Da ein kulturelles Zentrum fehlte und es konfessionelle Gegensätze zwischen den einzelnen Gebieten gab, war diese Tradition von Anfang an gespalten und in den verschiedenen Bündner Tälern entwickelten sich verschiedene Schreib- und Sprechweisen. Heute existieren fünf Sprachgebiete, die jeweils eine eigene Schriftsprache besitzen.

Mit dem Aufkommen des Tourismus und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert setzte sich das Deutsche auch im mündlichen Sprachgebrauch immer durch und das Rätoromanische verlor an Bedeutung. Als Reaktion darauf wurden Sprach- und Kulturvereine gegründet, um das Rätoromanische zu erhalten.

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Nach der italienischen Einigung 1861 wurden Forderungen laut, alle Gebiete südlich der Alpen, die ganz oder teilweise italienischsprachig waren, in den neuen Nationalstaat einzugliedern. Da das Rätoromanische von italienischer Seite als Dialekt des Lombardischen aufgefasst wurde, waren von dieser Forderung neben dem Tessin auch die romanischsprachigen Täler von Graubünden betroffen. Nach dem Ersten Weltkrieg unter der faschistischen Regierung von Benito Mussolini wurden diese Bestrebungen intensiviert.

Um der rätoromanischen Bevölkerung zu signalisieren, dass sie sehr wohl zur Schweiz gehört, wurde das Rätoromanische am 20. Februar 1938 per Volksabstimmung zur Landessprache erhoben – mit einer stolzen Mehrheit von 91,6%! Zur Amtssprache wurde das Rätoromanische allerdings erst im März 1996 erhoben.

Vom Aussterben bedroht

Von der ehemals grossen Zahl an Personen, die eine Version des Rätoromanischen sprechen, ist sie auf heute rund 60’000 Personen geschrumpft. Das sind etwa 0,5% der gesamten Schweizer Wohnbevölkerung. Das Rätoromanische ist auf der Unesco-Liste der bedrohten Sprachen, die innert weniger Generationen aussterben könnten.

1982 konzipierte der Zürcher Romanist die Schriftsprache Rumantsch Grischun. Sie basiert auf dem grössten gemeinsamen Nenner der drei wichtigsten rätoromanischen Idiome und soll zum Erhalt der Sprache beitragen. Seit 1997 wird Rumantsch Grischun von Bund und Kanton als offizielle Sprache zur Kommunikation mit den Rätoromanen verwendet und in der Schule gelehrt.

Die neue Schriftsprache stösst in der Bevölkerung auch auf Kritik. Es wird befürchtet, dass die neue Kunstsprache das klassische Rätoromanisch definitiv zu Grabe tragen wird.

Teaserbild: Wikimedia Commons / JoachimKohlerBremen

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